Das Bewusstsein für die Verknüpfung von gesundheitlichen und sozialen Problemlagen ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Nicht zuletzt ist dies ein Verdienst des Fachverbandes SAGES, der in der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit wichtige Impulse geliefert hat. Die beiden Co-Präsident*innen von SAGES haben mit uns über die Hintergründe gesprochen.
SAGES - Schweizerischer Fachverband für gesundheitsbezogene Soziale Arbeit
SAGES ist der Nachfolgeverband des Schweizerischen Fachverbands Sozialdienst in Spitälern SFSS. Er wurde 2017 gegründet und hat über 150 Mitgliedsorganisationen.
Sozialinfo/Martin Heiniger: In den vergangenen Jahren haben Gesundheitsthemen in der Sozialen Arbeit mehr Beachtung erhalten. Ist mit SAGES eine Stimme entstanden, die es vorher so nicht gegeben hat?
Tom Friedli: Ja, die Gründung von SAGES war ein Game Changer. Damals beim SFSS (Schweizerischer Fachverband Sozialdienst in Spitälern) hatten wir schon einzelne Mitglieds-Institutionen, die ausserhalb des Spitals tätig waren, etwa die Krebsliga. Uns war schon länger klar, dass wir das enge Verständnis von Sozialer Arbeit im stationären Gesundheitswesen erweitern müssen, um wirklich etwas zu erreichen. Es gab viele Sozialarbeitende in anderen Bereichen, die sich mit ähnlichen Fragen auseinandersetzten, die aber im SFSS nicht repräsentiert waren. Deshalb haben wir SAGES gegründet, erst als «Fachverband für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen», und den Fokus vor ca. zwei Jahren nochmals auf «gesundheitsbezogene Soziale Arbeit» erweitert. Die Gründung von SAGES hat der Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen und der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit politisch stärker Gehör verschafft. Wir können Anstösse zu neuen Projekten geben und mit Organisationen wie Public Health Schweiz oder der Allianz Gesunde Schweiz kooperieren. Zudem haben wir zweimal jährlich einen Austausch mit dem BAG und stehen mit verschiedenen Nationalrät*innen im Kontakt.
Therese Straubhaar: Heute können sich mehr Sozialarbeitende mit dem Fachverband identifizieren, d.h. nebst Spitalsozialdiensten auch Gesundheitsligen, die ambulanten Anbietenden generell, aber auch Organisationen in Bereichen wie Rehabilitation, Sucht oder Psychiatrie. Wir werden auch einbezogen, wenn es zum Beispiel um die Optimierung der hausärztlichen Versorgung geht. Es ist ein höheres Bewusstsein dafür entstanden, dass Sozialberatung einen Beitrag leisten kann, um dem Fachkräftemangel bei der Ärzteschaft zu begegnen.

Tom Friedli
Professor für Klinische Soziale Arbeit
Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW
Mitgründer und ehrenamtlicher Co-Präsident bei SAGES
Therese Straubhaar
Sozialarbeiterin
Krebsliga Schweiz
Externe Lehrbeauftragte an der FHNW
Ehrenamtliche Co-Präsidentin bei SAGES
« Die Gründung von SAGES war ein Game Changer. »
Der Trendmonitor der ZHAW hat unter anderem aufgezeigt, dass immer mehr Klient*innen der Sozialen Arbeit unter psychischen Störungen leiden. Kann man sagen, dass Gesundheit zunehmend als Querschnittsthema der Sozialen Arbeit erkannt wird?
Tom: Auf der politischen Ebene sicher nur zum Teil. Dort ist die Zweiteilung von Sozial- und Gesundheitswesen mit ihren jeweils unterschiedlichen Finanzierungslogiken und der Aufteilung in unterschiedliche Direktionen in den Kantonen nach wie vor ein grosses Hemmnis für eine integrierte Versorgung. Es wäre möglich, das anders zu denken, das zeigen etwa skandinavische Länder, wo die integrierte Versorgung einen anderen Stellenwert hat und der Unterschied zwischen Sozial- und Gesundheitswesen keine grosse Rolle spielt. Ich weiss nicht, ob das in jedem Fall besser ist, aber an denjenigen Nahtstellen, an denen wir dran sind, wäre es einfacher. Auf der Ebene der Versorgung sieht es anders aus. Seitens des Gesundheitswesens ist heute mehr Bewusstsein dafür vorhanden, dass viele Patient*innen auch von sozialen Problemen betroffen sind. Umgekehrt erkennt man im Sozialwesen heute eher an, dass Gesundheit einer der ganz wesentlichen Einflussfaktoren für eine gelingende Lebensführung ist. Eine der wichtigen neuen sozialarbeiterischen Theorien, die Theorie zu «Integration und Lebensführung», die bei uns an der FHNW in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurde, hat ihren Ausgangspunkt in der Psychiatrie und im Gesundheitswesen.
Therese: Es gibt inzwischen mehr Forschung zum Zusammenhang von Gesundheit und Armut, z.B. von Akteur*innen wie der SKOS oder von Fachhochschulen. Auch ausserhalb des Sozialbereichs steigt das Bewusstsein dafür, dass wir bei Früherkennung und Prävention von Erkrankungen das Soziale mitdenken müssen. Ein Beispiel dafür ist der aktuelle Obsan-Bericht, bei dem soziale Einflussfaktoren auf die Gesundheit einen enormen Stellenwert einnehmen. In der Aus- und Weiterbildung der Sozialen Arbeit hingegen sind Gesundheitsthemen nach wie vor unterrepräsentiert. Als Lehrbeauftragte in einem Bachelorstudiengang stelle ich fest, dass Zusammenhänge wie etwa zwischen Krebs und Sozialer Arbeit bei uns noch weniger etabliert sind als beispielsweise in Deutschland.
« Es gibt eine Öffnung hin zum Verständnis, dass das Soziale ein wichtiger Teil von Gesundheit und Krankheit ist. »
Braucht es für diese neue Perspektive eine Weiterentwicklung des Menschenbildes?
Therese: Ja, auf der Seite von Professionen und Disziplinen, die sich mit dem Biopsychischen des Menschseins befassen, gibt es eine Öffnung hin zum Verständnis, dass das Soziale ein wichtiger Teil von Gesundheit und Krankheit ist. Aber auch im Selbstverständnis der Sozialen Arbeit hat sich in den letzten 10 Jahren etwas bewegt. Als ich vor 7 Jahren meine Masterarbeit abschloss, wurden Begriffe wie «Soziale Diagnostik» als etikettierend, medizinlastig und defizitorientiert aufgefasst. Heute nehme ich in meinem Umfeld einen unverkrampfteren Umgang mit dem Begriff wahr, und dort, wo ich in der Lehre tätig bin, gehört das inzwischen zum Grundvokabular.
Gibt es einen erkennbaren Auslöser dieser Entwicklung?
Therese: Ein wichtiger Beitrag kommt sicher von den Fachhochschulen, die etwa Tagungen zu Klinischer Sozialer Arbeit veranstalten und damit dem Thema eine Relevanz geben.
Tom: Sehr wichtig ist auch die internationale Vernetzung, die in den letzten Jahren zustande gekommen ist. Wir sind mit Verbänden wie DVSG, DGSA in Deutschland oder OGSA in Österreich, mit Hochschulen, aber auch mit dem ECCSW, also dem European Centre for Clinical Social Work im Kontakt, sind in Arbeitsgruppen präsent und jetzt auch Mitherausgebende der Zeitschrift «Klinische Sozialarbeit». Wahrscheinlich hat auch das funktionale Verständnis von Gesundheit und Krankheit, das sich in den letzten 20-30 Jahren etabliert hat, etwas dazu beigetragen, die Verbindungen von Gesundheit und Sozialer Arbeit zu erkennen.
« Projektförderung ist wichtig, aber wenn man Soziale Arbeit im Gesundheitswesen nicht nachhaltig finanzieren kann, sterben die Projekte. »
Gibt es in der in der Praxis durch die zunehmenden Überschneidungen auch Unschärfen zwischen Bereichen des Gesundheitswesens und der Sozialen Arbeit?
Therese: Im Suchtbereich haben wir das früher erlebt, bis zum Punkt wo alle alles gemacht haben. Auch in der Krebsliga fand eine Vermischung der Profile statt, und es wurde nur noch von Berater*innen gesprochen. In den vergangenen Jahren zeigten sich jedoch auch die Nachteile, da etwa Pflegefachpersonen und Sozialarbeitende unterschiedliche Voraussetzungen haben, um Krebsbetroffene in Bezug auf ihre körperlichen und mentalen Langzeitfolgen zu begleiten oder aber deren soziale und sozial(versicherungs)rechtliche Fragen zu bearbeiten. Das hat bei der Sozialen Arbeit zu einer Schärfung des Profils beigetragen und in der Kooperation zu einer Klärung der gegenseitigen Ergänzung.
Ein innovativer Ansatz, bei dem es eine starke Verschränkung zwischen Gesundheitswesen und Sozialer Arbeit gibt, ist etwa die in Arztpraxen integrierte Sozialberatung. Gibt es noch andere Beispiele für solche Ansätze?
Therese: Ja, die gibt es. Ein Beispiel ist das Konzept der Regionalen Anlaufstellen REAS. Dabei handelt es sich um ein Projekt, das seit 2020 von Gesundheitsförderung Schweiz unterstützt und an mehreren Standorten in der deutsch- und französischsprachigen Schweiz umgesetzt wird. Ähnlich wie bei der Sozialberatung in der Arztpraxis geht es bei REAS darum, Versorgung stärker von der Integration her zu denken. Das heisst, nicht nur die Akteure im Gesundheitswesen näher zusammenzubringen, sondern Gesundheit und Soziales miteinander zu gestalten. Da werden im Moment neue Ansätze ausprobiert, bei denen die Soziale Arbeit neue Rollen erhält, und es entstehen neue Kooperationen. REAS übersetzt das Sozialtherapeutische Case Management in einen konkreten methodischen Rahmen, das auf die Theorie «Integration und Lebensführung» von Peter Sommerfeld und Mitautor*innen zurückgeht. Durch die soziale Diagnostik wird geklärt, welche Belastungen bei einer betroffenen Person auch noch bestehen, die beim Arzt gar nicht auf den Tisch kommen. Dabei werden die gesamte Situation, Ressourcen und Zielsetzungen eines Menschen abgeklärt, um mit einem individuellen Hilfeplan festzulegen, wie der/die Patient*in und die in komplexen Situationen oft zahllosen Akteur*innen im Hinblick auf die Ziele der Patient*innen zusammenarbeiten sollen. Das eröffnet in chronifizierten Situationen neue Perspektiven. Da sehen wir grosses Innovationspotenzial, wenn Berufsgruppen wie Ärzt*innen oder Psychiater*innen sich für eine Zusammenarbeit mit der Sozialen Arbeit öffnen, und auf der organisationalen Ebene entstehen neue Netzwerke. Ein zentraler Gelingensfaktor ist, dass Ärzt*innen und Pflegefachpersonen erkennen, dass es nicht um eine Konkurrenz geht, sondern um Entlastung und Ergänzung.
Tom: Ein weiteres innovatives Projekt ist PrePaC (Prevention of Pain Chronification). Es wird am Inselspital Bern durchgeführt und besteht in einer engeren Verzahnung von Klinischer Sozialer Arbeit und Gesundheit. PrePaC ist als interprofessionelles Projekt entstanden, bei dem ein Gesundheitspfad für Menschen, die von Schmerzen betroffen sind, implementiert werden soll. Die Soziale Arbeit wird dabei sehr früh einbezogen, um Risikofaktoren für eine Chronifizierung von Schmerzleiden frühzeitig zu erkennen und abzufangen. Das Projekt wird ebenfalls von Gesundheitsförderung Schweiz unterstützt, die zu einem Innovationshub geworden ist, mit allen Vor- und auch Nachteilen. Projektförderung ist wichtig, aber wenn man Soziale Arbeit im Gesundheitswesen nicht nachhaltig finanzieren und in eine Regelfinanzierung überführen kann, nützt es nichts, da Projekte dann nach der Laufzeit sterben. Das ist eines der Hauptprobleme, mit denen gesundheitsbezogene Soziale Arbeit konfrontiert ist.
« Eines der grossen Ziele von SAGES ist es, die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit aus der Prekarität herauszuholen »
Gehört es zu euren Zielen bei SAGES, auf der politischen Ebene ein Bewusstsein dafür zu schaffen?
Therese: Ja, eines der grossen Ziele von SAGES ist es, die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit aus der Prekarität herauszuholen. Gesundheitsförderung Schweiz hat erkannt, dass die nachhaltige Finanzierung eigentlich ein Schlüsselproblem ist. Deshalb legt sie da heute mehr Wert darauf. REAS befindet sich beispielsweise nach einer vierjährigen Pilotfinanzierung aktuell in einer vierjährigen Übergangsfinanzierung, u.a. mit der Idee, Finanzierungsmodelle zu erproben. Erfahrungen auch in diesem Bereich zu dokumentieren und weiterzugeben ist ein wichtiger Teil solcher Projekte.
Mit SAGES veranstaltet ihr eine Tagung, zum Thema «Methodenvielfalt und gute Praxis weiterdenken». Was wünscht ihr euch von der Tagung?
Tom: Ich bin zufrieden, wenn all die vielen Leute, die hoffentlich an der Tagung teilnehmen, neue Inputs mitnehmen können. Wenn wir sie vernetzen können, und sie merken, dass sie nicht alleine sind, sondern dass sie sich mit anderen zusammenschliessen und sich dadurch mehr Gehör verschaffen können.
Therese: Dem stimme ich zu und füge an: wenn ich miterleben darf, dass diejenigen, die Workshops gestalten und etwa eine neue Methode vorstellen, die sie entwickelt und ausprobiert haben, etwas von ihrem Weg teilen können und dadurch Sichtbarkeit und Wertschätzung erfahren dürfen.
4. Nationale SAGES-Fachtagung: «Methodenvielfalt: gute Praxis weiterdenken»
Am Mittwoch, 12. November 2025 findet an der FHNW in Olten die 4. Nationale SAGES-Fachtagung statt. Die Fachtagung, welche zweisprachig abgehalten wird (d/f), bietet Fachpersonen der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit eine Plattform zum Erfahrungsaustausch und die Möglichkeit, innovative Ansätze zu erkunden.
Autor*in

Martin Heiniger
Fachredaktion
Sozialinfo